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Dimensionen der Achtsamkeit und ihr Zugang in der Natur

Gründe für eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis gibt es viele: Stressreduktion, Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit und des Erinnerungsvermögens, mehr emotionale Stabilität, besserer Schlaf und Steigerung des Mitgefühls sind nur einige davon. Als ich vor ein paar Jahren begann, mich mit dem Thema Achtsamkeit näher zu beschäftigen, begegneten mir vor allem Meditationsübungen, die den Fokus auf die Atmung, eigene Gedanken und den eigenen Körper richteten. Den Besuch eines Achtsamkeit-Retreats empfand ich sehr unterstützend in einer damals schwierigen Lebenssituation.

Doch es fiel mir schwer, die täglich empfohlene formelle Praxis in statischer Sitzposition in meinen Alltag zu integrieren. Erst als ich mich mit Konzepten und Übungen der Achtsamkeit in der Natur beschäftigte, lernte ich, dass es viel mehr Facetten von Achtsamkeitspraxis gibt. Diese arbeiten mit verschiedenen Achtsamkeitsdimensionen und ermöglichen einen für viele Menschen einfacheren Zugang

Im folgenden Artikel möchte ich daher aufzeigen, dass es neben der inneren Achtsamkeit noch weitere Achtsamkeitsdimensionen gibt und weshalb diese in der Natur leichter und ohne große Anstrengung erreicht werden können. 

Definitionen von Achtsamkeit

Achtsamkeit (engl. mindfulness) hat seinen Ursprung in der knapp zweieinhalbtausend Jahre alten Satipatthana-Sutta der buddhistischen Lehre und Meditationspraxis. In der westlichen Kultur ist Achtsamkeit vor allem durch das Konzept Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) von Jon Kabat Zinn bekannt geworden.

Achtsamkeit ist eine besondere Form der Aufmerksamkeit, bei der man bewusst wahrnimmt, was im gegenwärtigen Moment ist, ohne zu urteilen.

nach Jon Kabat Zinn

Die Haltung der Achtsamkeit lässt sich mit den Eigenschaften bewusst, absichtslos, gegenwärtig, offen und akzeptierend beschreiben (Huppertz & Schataneck, 2021). In einigen Definitionen wird darüber hinaus die Forderung des Nicht-Bewertens gestellt (z.B. im 5-Elemente-Zirkel der Achtsamkeit nach Zarbock, Ammann & Ringer). Dies ist gleichzeitig einer der größten Angriffspunkte für Kritiker der Achtsamkeitskonzepte. Es wird behauptet, dass die Gefahr bestehe, durch Achtsamkeitspraxis gleichgültig oder gefühllos zu werden.

Daher möchte ich auf den Aspekt des Nicht-Bewertens etwas näher eingehen.

Bewertungen erfolgen spontan, sind meist unvermeidlich und auch Voraussetzung für viele unserer Gefühle. Es ist somit nicht das Ziel sie zu unterdrücken. Meines Erachtens geht es eher darum durch den Aspekt des Nicht-Bewertens eine Unterbrechung von unbewussten Reiz-Reaktionsmustern zu bewirken, die insbesondere unter Stress auftreten. Nicht-Bewerten ist daher eng mit dem Aspekt des Nicht-Reagierens verbunden. Das bedeutet sich die im Alltag häufig unbewussten Bewertungen ins Bewusstsein zu bringen, sie wahrzunehmen, zu beobachten und sich darin zu üben nicht sofort darauf zu Reagieren.

Die Unterscheidung zwischen fokussierter und weiter Achtsamkeit

In einigen Beschreibungen wird der Begriff der Achtsamkeit vom Begriff der Konzentration abgegrenzt, die sich demnach auf einen bestimmten Sachverhalt, Objekt oder Gedanken beziehe, also fokussiert sei und Achtsamkeit stelle dagegen einen weiten Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustand dar, der ein Gewahrsein aller innerer wie äußerer Aspekte der gegenwärtigen Situation zum Ziel habe.

Für mich persönlich schließt sich die Unterscheidung von fokussierter versus weiter Achtsamkeit in keinster Weise aus, sondern ich halte den Vorschlag von Huppertz (Achtsamkeit – Befreiung zur Gegenwart, 2009) am eingängigsten, dass es sich hierbei um ein Kontinuum handelt, auf dem man seine Aufmerksamkeit mal mehr mal weniger weit ausrichtet.

Es gibt Situationen oder psychische Konstitutionen wie beispielsweise das Gefühl der Reizüberflutung, in denen fokussierte Achtsamkeitsübungen hilfreicher sein können. Das gilt auch bei der immer häufiger anzutreffenden Konzentrationsschwäche bei Kopfarbeitern durch die ständigen Unterbrechungen der heutigen Arbeitswelt (Attention Deficit Trait = Zerstreutheit als Eigenschaft, nach dem Psychotherapeuten Edward Hallowell). Hier kann eine formell angeleitete fokussierte Achtsamkeitspraxis die Fähigkeit länger bei einer Sache oder einer Person zu bleiben verbessern.

Ein gewisses Maß an Konzentration ist die Grundlage für die Achtsamkeitspraxis, denn ein wacher, aufmerksamer Zustand ist nötig, um Achtsamkeitspraxis zu vollziehen und unterscheidet diese von reinen Entspannungs- oder Trancemethoden. Bei vielen Menschen kann die fokussierte Achtsamkeit ein höheres Maß an Konzentration erfordern und daher ermüdender sein, sodass es hilfreicher ist eine weite Achtsamkeitspraxis zur Stressprävention zu üben.

Die Unterscheidung zwischen innerer, äußerer und relationaler Achtsamkeit

Innere Achtsamkeit: Fokus auf Körper und Geist

Die innere Achtsamkeit bzw. die Achtsamkeit im Innen bezieht sich auf die Fokussierung auf Gedanken, Erinnerungen, innere Bilder und Körperempfindungen. Sie ist somit ausschließlich subjektiv erfahrbar,

…denn niemand anderes kann genau das Gleiche empfinden „wie es sich anfühlt, so zu sein“ in diesem Moment.

Huppertz & Schataneck, 2021

Eine achtsame und akzeptierende Haltung unserer Empfindungen und Gedanken ist wichtig, denn das ist es was uns einzigartig macht und es ist die Voraussetzung für Selbstfürsorge und für eine „gesunde“ Verantwortungsübernahme für andere im Gegensatz zu Aufopferung oder Selbstaufgabe.

Äußere Achtsamkeit: Fokus auf die Umwelt

Mit der Achtsamkeit auf das Außen richten wir den Fokus auf objektive Aspekte außerhalb unserer Person, auf das was auf uns wirkt und das was man als allgemein zugängliche Wirklichkeit bezeichnet. Das Außen kann unsere direkt wahrnehmbare Umgebung aber auch unsere Mitmenschen sein. In der Haltung der Achtsamkeit geschieht auch diese Achtsamkeitsfokussierung in wachem, bewussten Zustand und dabei absichtslos, akzeptierend und nicht-bewertend (im oben beschriebenen Sinne).

Mithilfe der äußeren Achtsamkeit lässt sich das eigene Ich und die eigene Perspektive wiederum auf erholsame Art und Weise in den Hintergrund rücken. Das Gedankenkarussell lässt sich unterbrechen, belastende Gedanken können in den Hintergrund treten und Probleme lassen sich relativieren.

Relationale Achtsamkeit: Fokus auf die Wechselwirkungen zwischen Außen und Innen

Relationale Achtsamkeit wird auch bezeichnet als die Achtsamkeit auf die Beziehung, damit wird schnell deutlich worum es bei dieser Dimension geht. Der Fokus ist hier auf den Kontakt und die Interaktion zwischen sich selbst und der Umwelt oder Mitwelt gerichtet. Was löst das was im Außen ist bei mir aus und wie wirkt mein Verhalten wiederum auf meine Umgebung? Hieraus lässt sich viel auf den persönlichen Alltag wie z.B. achtsame Kommunikation aber auch den nachhaltigen Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen ableiten.

Die Dimensionen der Achtsamkeit im natürlichen Umfeld

Fokussierte Achtsamkeit lässt sich auch am Schreibtisch im Büro üben. Es gibt hierzu viele Übungsimpulse im Internet oder bei Vorträgen zur Stressprävention am Arbeitsplatz oder Home Office. Das Konzept des Deep-Work hat genau deshalb so große Beachtung gefunden, weil es eben so viele Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme in der heutigen Wissensgesellschaft und Kopfarbeit gibt. Hierbei findet sich vor allem der Ratschlag sich Zeiten einzuplanen, in denen man ungestört arbeitet, alle Nachrichtensignale deaktiviert und sich ggf. schalldichte Kopfhörer aufsetzt. Leidet man aber bereits unter dem Attention Deficit Trait und stellt bei sich selbst zunehmend fest, dass man sogar aktiv nach Ablenkung wie auf das Handy schauen sucht oder zwischen verschiedenen Aufgaben hin und herspringt, so kann es wesentlich hilfreicher sein Pausen einzuplanen, in denen man in die Natur geht.

Der Aufenthalt in der Natur schafft Abstand vom Alltag, vom bestehenden Leistungs- und Zeitdruck und den Erwartungen anderer. In der Gesamtheit der Evolutionsgeschichte hat der Mensch bisher nur einen Bruchteil der Zeit im naturfernen, städtischen Umfeld gelebt.

Der Naturraum bringt mit seiner beruhigenden und faszinierenden Ausstrahlung den Menschen schnell in Resonanz mit sich selbst.

Deutsche Akademie für Waldbaden und Gesundheit

Aber nicht nur der Zugang zu sich selbst, seinen Gefühlen und Körperempfindungen lässt sich im entschleunigenden natürlichen Umfeld meist schneller erzielen. Vor allem auch die Wahrnehmung der äußeren Umgebung erfolgt viel leichter als in geschlossenen Räumen. Bewegt man sich absichtslos schlendernd in der Natur wird fast automatisch das Interesse geweckt alles um sich herum zu beobachten. Unterstützend für die Dimension einer äußeren fokussierten Achtsamkeit können dabei beispielsweise Übungen wie der Anfängergeist wirken.

Auch die Übungspraxis der weiten Achtsamkeit lässt sich in natürlicher Umgebung wesentlich einfacher als in geschlossenen Räumen umsetzen. In der heutigen Zeit und in unseren Breiten ohne Gefahr durch Wegelagerer oder gefährliche Tiere ist die Form der weiten Achtsamkeit auch nicht gleichzusetzen mit der „Wachsamkeit“ der Wildnispädadogik, um im Notfall auf jegliche Veränderungen schnell reagieren zu können, sondern dem oben beschriebenen offenen Gewahrsein all dessen was in der gegenwärtigen Situation ist.

Ein Wechsel zwischen den Dimensionen weit und fokussiert lässt sich wiederum sehr leicht mithilfe der sogenannten Und-Techniken erreichen.

Achtsamkeit in der Natur ermöglicht somit alle Dimensionen von Achtsamkeit und verbindet diese sogar.

  • Den leichten Zugang zum Sich-Selbst-Spüren im Kontakt mit der natürlichen Umgebung,
  • damit in Resonanz zu gehen und
  • eine Basis zu schaffen für das Bewusstsein der Interaktivität von Mensch und Natur.

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Über mich

Hallo, ich bin Bianca

Ganzheitliche Karriere- und Resilienz-Coach, Schatzgräberin im inneren Reich der Potenziale und Mutmacherin in der Veränderung.
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Zur Schärfung der Sinne und für einen klareren Blick dafür, was dich ausmacht und wofür du wirken willst. 

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